top of page

Im Dialog mit dem Bild

beim malen

Liebes Bild

Bevor du mein Atelier verlässt und weiterziehst, möchte ich dir mit diesem Brief erzählen, wie du entstanden bist.

 

Ganz bewusst habe ich nach Motiven im Alltag und unterwegs in der Natur gesucht. Ich skizzierte, malte plenar, also unter freiem Himmel, oder fotografierte viele Alltagsbegebenheiten. In meinem Atelier suchte ich dann die interessantesten Motive aus. Notan und Skizzen wurden angelegt. Und wenn sie mir nach einiger Zeit immer noch gefallen haben, arbeitete ich noch einmal darüber und wählte dein Format, deine Grösse und den Untergrund aus. Die Bretter für den Untergrund, die in meinem Atelier stehen, habe ich erworben und grundiert, sie gehören mir. An einem bestimmten Tag kam ich mit meiner Idee zu deinem Bild ins Atelier und schnappte mir das dafür bestimmte Brett.

 

Als Nächstes überlege ich, in welchen Tonwerten und Farben ich arbeiten will. Auch mache ich Notizen zu der Reihenfolge, wie ich arbeiten will. Jetzt bin ich warmgelaufen und du, liebes Bild, hast einen Platz in meinem Herzen eingenommen. Endlich die Wachsfarben wählen, den Wachs schmelzen und loslegen. Geniessen und Farbe auftragen. Ich komponierte dich, indem ich im Gespräch mit dir bin. Du wie auch die anderen Bilder antworten mir, aber nie verletzend, nicht so wie Menschen.

Wenn ich müde werde, habe ich gelernt, aufzuhören. Ich gönne dir, dem Bildträger und mir eine Pause. Der Prozess ging so weiter, über mehrere Wochen, in denen ich immer wieder mal weitergearbeitet habe. So wird dein Brett zum Träger von dir, liebes Bild. Damit entfernst du dich aus meinem Besitz und wirst mehr und mehr zu deinem eigenen Besitz.

Ich habe immer mehrere angefangene Bilder oder sogar Serien von Bildern, an denen ich arbeite. Die Bildträger stehen im Atelier und das Bild, dass am meisten ruft, wird weiterbearbeitet. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem das Bild aus meinem Herzen ganz auf den Holzgrund ist und du nicht mehr mir gehörst, sondern dir selbst. Du teilst mir mit, was du noch benötigst. Das sind manchmal richtige Kämpfe, bei denen du und ich uns nicht einig sind und ich auch mal gefrustet oder deprimiert das Atelier verlasse. Du wartest geduldig auf mich im Atelier. Wenn ich komme, versuchst du mit aller Strahlkraft meinen Blick zu erhaschen: Bitte mach weiter. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrere Male.

An einem bestimmten Tag kommt der Moment, wo du mir leise flüsterst: "Ich bin vollendet" und wenn ich nicht hören will, auch mal laut  "Stop" rufst. Du hast jetzt genug von meinen Pinselstrichen und strahlst mich zufrieden an und ich lächle glücklich zurück. Fast fertig, jetzt noch meine Initialen und einen passenden Rahmen, der dich kleidet. Das ist der Moment, in dem das " Brett " nicht mehr mir gehört. Es kommt jetzt der Moment, in dem du mein Atelier verlässt und weiterziehst.

Danke, dass ich bei deinem Werden dabei sein durfte. Ich wünsche dir eine spannende Reise und dass du viel Menschenherzen erfreuen darfst.

In Liebe

Marlis Künstlerin
bottom of page